Luftrettung in Schweden: Die Retter von Gällivare
14.08.2011
rth.info hatte im Jahr 2009 vier Reportagen über ausländische Standorte u.a. in Großbritannien veröffentlicht. Jetzt freuen wir uns sehr, diesen Blick über den nationalen Tellerrand wieder einmal wagen zu können. Wir hoffen, Sie finden den Bericht aus dem hohen Norden Europas genauso spannend wie wir.
Aktuelle Situation
Seit dem 1. Dezember 2010 fliegt auf Schwedens nördlichster Rettungshubschrauber-Basis eine AS 365 N3 "Dauphin". Sie löst die alte Sikorsky S 76 A von Norrlandsflyg nach 12 Jahren ab.
Rettungshubschrauber Gällivare, hier die JIA im Gebirge an der norwegischen Grenze im Tiefschnee
Foto: Dr. Bastian Ulmer
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Gründung und ursprüngliches Leistungsspektrum
1961 gründete Knut Hedström das Unternehmen Norrlandsflyg mit Hauptsitz in Gällivare in Schwedens nördlichstem Bundesland Norrbotten. Mit zwei Cessna 185-Flugzeugen, für Wasserlandungen ausgerüstet, flogen die Besatzungen von Norrlandsflyg zunächst Touristen und Einheimische zum Angeln an entlegene Gebirgsseen, transportierte Material für die samische Bevölkerung und unterstützte Unternehmen und Behörden durch den Transport von Personal im größten und weitläufigsten Bundesland Schwedens.
Expansion von Norrlandsflyg
Der Bedarf an Flugtransporten war groß, so dass das Unternehmen schnell wuchs. 1969 bestand die Norrlandsflyg-Flotte bereits aus drei Wasserflugzeuge und einem Bell 47J Helikopter. Im Laufe der Jahre war es immer wieder zu Hilfs- und Rettungsflügen im Gebirge gekommen – die Region verfügt über großes Potenzial an Wasserkraft, die genutzt werden wollte. Es wurde also viel gebaut und gearbeitet, und wo gearbeitet wird, passieren Unfälle.
Norrlandsflyg steigt in die Luftrettung ein
1970 folgte dann der erste offizielle Auftrag für Norrlandsflyg, die Luftrettung in Norrbotten zu übernehmen – im gleichen Jahr begann der ADAC in Deutschland mit der Luftrettung. Zunächst wurden die Rettungseinsätze mit einem Bell 206 Ranger geflogen, der Ende der 70er Jahre von einer Sikorsky S55T abgelöst wurde. In den 80er Jahren folgten eine AS 350 und später eine AS 360 C, bevor 1992 die erste Sikorsky S76 für die Rettungsfliegerei eingesetzt wurde.
Gällivare praktiziert das Zwei-Pilot-System
Foto: Dr. Bastian Ulmer
Betreiberwechsel
Im November 2010 zog sich Norrlandsflyg nach 40 Jahren Luftrettung in Norrbotten zurück und konzentriert sich seitdem auf den SAR-Dienst an Schwedens Küsten.
Der Vassaraträsk-Heliport in Gällivare ist nun von Scandinavian Air Ambulance übernommen worden, einem Unternehmen, das seit neun Jahren sehr erfolgreich Luftrettung in Schweden betreibt.
Besonderheiten im hohen Norden Schwedens
Der Standort ist jedoch eine große Herausforderung:
Einsatzgebiet
Das Bundesland Norrbotten ist ungefähr so groß wie die nördliche Hälfte Deutschlands von der Küste bis nach Dresden, Kassel und Münster. In Deutschland tummeln sich 33 Primär- und Sekundärtransporthubschrauber auf dieser Fläche.
Die JIA vor ihrem ersten Einsatz nach Indienststellung
Foto: Dr. Bastian Ulmer
In Norrbotten leben ca. 200.000 Menschen, ein Großteil davon in den Küstenstädten Luleå und Piteå. In Gällivare und in Kiruna an der norwegischen Grenze gibt es durch große Eisenerzvorkommen jede Menge Schwerindustrie.
Die Gebirgsregionen im Westen des Landes mit ihren Nationalparks Sarek, Stora Sjöfallet und Padjelanta locken jedes Jahr viele Touristen in die Region. Im Sommer zum Wandern und im Winter zum Skilaufen.
Versorgung eines Skifahrers an der norwegischen Grenze. Die Schneedecke ist 1,5m dick - man muss ganz schön krabbeln bis man beim Patienten ist...
Foto: Dr. Bastian Ulmer
Patient auf dem Spineboard mit Hubi-Rettungsassistentin Britta. Transport zum Hubi mit dem Snowmobil
Foto: Dr. Bastian Ulmer
Einsatzarten und regionale Besonderheiten
Das Einsatzprofil der "Dauphin" in Gällivare ist demzufolge vielseitig. Es reicht von der Hilfe bei Unfällen in der Schwer- und Holzindustrie über Skiunfälle, Gebirgsrettung, Verkehrsunfälle, internistische Notfälle bis zu Akuttransporte aus entlegenen Regionen.
Darüber hinaus übernehmen die Teams aber insbesondere auch Kranken- und Intensivtransporte zwischen Krankenstationen in den kleineren Orten und den kleineren Krankenhäusern in Kiruna und Gällivare in die Schwerpunktklinik nach Luleå oder in die Universitätsklinik nach Umeå. Dabei werden beeindruckende 250km Transportweg nach Luleå respektive 550km nach Umeå zurückgelegt.
Primäreinsätze machen etwa 40 % des Einsatzaufkommens aus, Sekundärtransporte schlagen mit ungefähr 60 % zu Buche.
Die JIA auf Schwedens höchstem Berg, dem Kebnekaise (2111m)
Foto: Dr. Bastian Ulmer
Besonderheiten im Einsatzspektrum
Im Sommer erschweren das zum Teil lokal sehr wechselhafte Wetter im Gebirge und Milliarden von Mücken die Arbeit. Mückendichte Einsatzkleidung und starkes Mückenmittel ist ein Muss auf der "Dauphin".
Im Winter machen Dunkelheit und die extreme Kälte mit bis zu -40°C die Luftrettung zu einer schwierigen Aufgabe. Ein Hubschrauber muss leicht sein: Türen, Fenster und Außenhaut der Maschine sind also relativ dünn und nur wenig isoliert. Die Heizungsanlage der "Dauphin" reicht gerade so bis -10°C Außentemperatur aus. In den vier kältesten Wintermonaten wärmen zwei zusätzliche elektrische Heizlüfter die Kabine. Zwischen November und März herrschen Temperaturen zwischen -20°C und -30°C keine Seltenheit.
Die JIA auf Schwedens höchstem Berg, dem Kebnekaise (2111m). Die Türbeschriftung lautet übrigens: Norbottens Lans Landsting
Foto: Dr. Bastian Ulmer
Eine vorgewärmte Infusionslösung gefriert bei einem Einsatz im Freien innerhalb von zehn Minuten. Ein gefrorener Infusionsschlauch bricht einfach ab und elektrische Geräte mit Batterie arbeiten an ihrer Leistungsgrenze. Venöse Zugänge müssen mit dicken Winterhandschuhen gelegt werden und unterkühlte Patienten gehören zur Tagesordnung.
Die einzige Lösung ist, den Patienten schnellstmöglich in den Hubschrauber zu laden und dort zu versorgen. Neben der längeren Reichweite ist dies ein weiterer Grund, warum mit einer so großen Maschine geflogen wird: Der Patient liegt längs in der Mitte und ist von beiden Seiten für die medizinische Versorgung zugänglich.
Rettung im Land der Mitternachtssonne. Da darf es auch Spaß machen: Pilot Jan Hansson (rechts) und der Autor dieses Textes morgens um 4:00 auf dem Kebnekaise
Foto: Dr. Bastian Ulmer
Notarzt und Rettungsassistent sitzen jeweils rechts und links vom Patienten. Zur Standardausrüstung der Maschine gehören ein Schlafsack-artiger gefütterter Überzug für den Patienten zur Wärmeisolation, Stirnlampen, Schneeschuhe und ein Winter-Überlebens-Pack mit Biwacksack, Trockennahrung etc.
Die JIA am Flughafen in Gällivare. Rechts sind schneebedeckte Gipfel erkennbar
Foto: Dr. Bastian Ulmer
Fliegerische Besatzung und Verfahren
Die Maschine ist rund um die Uhr mit zwei Piloten besetzt. Ein Copilot muss 800 Flugstunden, ein Pilot 2000 Flugstunden plus Gebirgsflugerfahrung mitbringen, um auf der Basis in Gällivare arbeiten zu können. Die "Dauphin" ist voll instrumentenflugtauglich.
OLE ist unsere Ersatzmaschine und in Norwegen registriert. Scandinavian AirAmbulance ist in der Luftrettung in Norwegen, Schweden und Finnland aktiv. OLE muss überall hin. Hier steht OLE auf dem Dachlandeplatz der Uniklinik in Umeå
Foto: Dr. Bastian Ulmer
Um einen reibungslosen 24h-Betrieb gewährleisten zu können, verfügt der Helikopter über eine ständige Internetverbindung für engmaschiges Wetterbriefing, Wetterradar und Night-Vision-Goggles.
Einer der Piloten. Die schwedischen Luftretter aus Gällivare tragen auf ihrer Einsatzkleidung einen Patch, der Nordlichter (aurora borealis) zeigt
Foto: Dr. Bastian Ulmer / bk-helicopter-patch-design
Einsatz-Kurzbeispiel
Exemplarisch für einen Einsatz im hohen Norden kann eine Alarmierung vom 11. August 2011 beschrieben werden: An diesem Tag waren die Retter aus Gällivare im Hochgebirge an der norwegischen Grenze tätig. Das Wetter war jedoch vor Ort zu schlecht, um eine Landung direkt am Patienten realisieren zu können. Aufgrund dieser Tatsache entschieden die Piloten, ihre medizinische Crew an der Wolkengrenze abzusetzen. So mussten Notarzt und HCM etwa einen Kilometer zum Patienten zu Fuß zurücklegen.
Auf dem Bild hat die OLE Ulmer und seinen Assistenten gerade abgesetzt und fliegt ins Tal. Der Patient befindet sich im Nebel hinter der Maschine oberhalb des Schneefeldes. Die luxierte Schulter wurde vor Ort in Plexusanästhesie (Lokalbetäubung für die Schulter) wieder eingekugelt.
Der Patient musste zu Fuß mit seinen Rettern den Berg herunter wandern, bis alle unterhalb der Wolkenuntergrenze waren und die OLE die medizinische Besatzung und ihren Patienten an Bord nehmen konnte.
Primäreinsatz im Hochgebirge an der norwegischen Grenze am 11. August 2011
Foto: Dr. Bastian Ulmer
Autor
- Wir danken:
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